Institutionalisierte Wider-Orte – Themenpark Anarchismus
Zwischen alternativer Kultur und touristischem Spot

von Sønke Gau und Katharina Schlieben / Shedhalle


Bild 1: Gelände Rote Fabrik

Das Areal der Roten Fabrik [1] in Zürich ist seit den 80er Jahren ein Ort, der weit über die Stadtgrenzen hinaus bekannt ist. Er ist auf Grund seiner Entstehungsgeschichte ein legendärer Ort – aber auch ein Ort, der viele Fragen aufwirft. Die Öffnung der Roten Fabrik für Jugendkultur, Kunst und alternative Lebensentwürfe, wurde gegen massive Vorbehalte der Stadtpolitik erkämpft, um einer widerständigen Praxis und Kultur einen Platz zu geben. Die Schaffung dieses Freiraums in einer an Wider-Orten relativ armen Stadt wie Zürich ist einerseits ein historischer Verdienst – andererseits stellt sich die Frage, in wie weit in einer räumlich zugewiesenen, subventionierten und mittlerweile institutionalisierten Situation der ursprüngliche Anspruch noch eingelöst werden kann. Das Dichotomie der Roten Fabrik zwischen Wider-Ort und touristischem Spot wird deutlich, wenn man die Einträge in Reiseführer liest. So schreibt zum Beispiel das deutsche Lifestyle und Szene-Magazin MAX in seinem online-city-guide-zürich: „Ein Überbleibsel aus den wilden 80er Jahren, als sich die Züricher Avantgarde-Kunst noch mit Krawallen ihre Nischen erstreiten musste. Damals wurde auch gegen den Abriss der 1892 erbauten Seidenfabrik demonstriert. Mit Erfolg: Heute befindet sich in den markanten Backsteinhallen ein beliebtes Off-Kultur-Zentrum in Selbstverwaltung: Musikbühne, Theaterhalle, Galerie und diverse Arbeitsgruppen - aus denen die Schweizer Kleinkunstszene ihren Nachwuchs rekrutiert. Jeden Abend Programm! Das Herz der Fabrik ist die urige Selbstbedienungs-Kantine am See“. [2] Der Freiraum Rote Fabrik ist mittlerweile eingemeindet in die Verwertungsinteressen von Stadt-Image-Politik und Tourismusindustrie. Sie ist touristischer Spot und ein Ort der alternativen Kultur zugleich. Wie lassen sich nun diese beiden Dinge vereinbaren? Gerade in jüngster Zeit gab es wieder ein schönes Beispiel, in wiefern hier alternative Praxis und Spektakel aufeinander stossen. Die Rote Fabrik ist mit vielen Graffitis besprayt, einige sind davon schon fast historisch, andere sind Übungen von Nachwuchstalenten (Bild 1). Im Juni diesen Jahres lud das Projekt „Graffiti Jam“ viele internationale GraffitisprayerInnen ein, das Areal neu zu gestalten. Dafür wurden zunächst allen Gebäude und alle Graffitis des Areals braunrot in der ursprünglichen Farbe der Ziegel übermalt (Bild 2). Die Firma, die als Sponsor für diesen Event gewonnen werden konnte und die notwendigen Spezialfarben zur Verfügung stellte, ist spezialisiert auf Gebäudeimprägnierung und Graffitientfernung. Graffitis, die ursprünglich ein Mittel zur Selbstermächtigung im urbanen Raum sind, werden in diesem Fall ihrem widerständigen Potential beraubt. Sie werden auf ihre ästhetische Oberfläche reduziert und werden im Rahmen des zeitlich und räumlich umgrenzten Event zu einer Geste, einem Spektakel, das institutionalisiert, lenkbar und kommerzialisiert werden kann. In diesem Zusammenhang könnte man von einem Fake sprechen – Themenpark Anarchismus.


Bild 2: Vorbereitungen für „Graffiti Jam“ im Juni 2005

Auf dem Gelände der Roten Fabrik befindet sich auch die Shedhalle. [3] Mit der thematischen Projektreihe „Spektakel, Lustprinzip oder das Karnevaleske?“ begann im Herbst 2004 ein Ausstellungsprojekt in drei aufeinander folgenden Kapiteln. Es wurden Strategien aktivistischer Praxis befragt und die Orte analysiert, an denen dieses Praxis stattfindet. Aktivistische KünstlerInnen und künstlerische AktivistInnen (darin liegt ein feiner Unterschied) untersuchten, in wiefern das „Karnevaleske“ eine kreative Strategie oder eine effiziente Methode sein kann politische Anliegen vorzuführen und zu artikulieren oder ob lediglich spektakuläre Oberflächen produziert werden. Ausgangspunkt des Projektes über subversive Bedeutungsproduktion war die Re-Lektüre der Schriften des russischen Literaturwissenschaftlers Michail Bachtin. Bachtin analysiert in Literatur und Karneval [4] die Einflüsse von mittelalterlicher Lachkultur und dem Karnevalesken im Volksbrauchtum auf die Literatur. Seine Romantheorie geht davon aus, dass das Karnevaleske eine Möglichkeit sei, die „Welt umzustülpen und damit die Ordnung und alle aus ihr erwachsenen Formen der Furcht, Ehrfurcht, Pietät und Etikette außer Kraft zu setzen“. Das Lachen und das Karnevaleske sind für Bachtin Schutzformen, die es erlauben, äußere und vor allen Dingen auch innere Zwänge und Zensur zu unterlaufen und zumindest temporär und symbolisch eine nicht-hegemoniale Wahrheit darzustellen, welche die „Welt auf eine neue Weise öffnet“. Unter diesem Blickwinkel kann das Karnevaleske durch die temporäre Abwesenheit von Herrschaft und die Rückeroberung des öffentlichen Raumes geeignet sein eine „Weltsicht von unten“ zu artikulieren und den Charakter einer Gegenkultur anzunehmen sowie eine Relativierung der bestehenden Ordnung zu ermöglichen.


Bild 3: Videostill aus Müller-Sendung, CH-Magazin, DRS, 1980

In diesem Zusammenhang erschien es uns interessant, einen Blick auf die sogenannten Jugendunruhen [5] der frühen 80er Jahre in Zürich zu werfen, die – wie bereits erwähnt – auch zur Etablierung der Roten Fabrik geführt haben. Gerade in dieser Zeit wurden von den DemonstrantInnen Formen des Protestes entwickelt, die unserer Meinung nach als „karnevalesk“ zu bezeichnen wären. Sie haben sich einerseits durch spielerische, subversive Provokationen in die medialen Kommunikationskreisläufe einschreiben können und andererseits haben sie eine neue Form von Streitkultur vorgeführt. Prominentestes Beispiel dieser Protestformen ist die „Müller-Sendung“ (Bild 3). Auf Grund der Jugendunruhen werden vom CH-Magazin des Schweizer Fernsehens neben dem Polizeikommandanten, StadträtInnen und dem städtischen SP-Präsidenten auch zwei VertreterInnen der Jugendbewegung zur Diskussionsrunde eingeladen. Die beiden „Bewegten“ geben sich als biederes Ehepaar Anna und Hans Müller aus. Sie fordern härteres Durchgreifen gegen die KrawallmacherInnen. Diese Umdrehung führt dazu, dass die gewohnten kontroversen Diskussionsmuster durchbrochen und die VertreterInnen der Stadt ihrer Argumente beraubt werden. Ihre Rhetorik wird vorgeführt und ihre Standpunkte der Lächerlichkeit preisgegeben. Die SprecherInnenrollen werden vertauscht und die Diskussionsrunde dadurch vor laufender Kamera zu einer massenmedialen Farce. Ein weiteres Beispiel für karnevalseke Strategien aus dieser Zeit ist die „Schwimmdemo“: Eine Demonstration wird den Protestierenden auf den Strassen im öffentlichen Innenstadtraum Zürichs untersagt. Daraufhin verlagern sie die Demonstration ins Wasser der Limmat von der Zürcher Quaibrücke bis zum Platzspitz. Der öffentliche Raum, in dem Fall ein städtischer Fluss, wird außerhalb der gängigen Konventionen in Beschlag genommen. Kamerateams, Polizei und Bevölkerung schauen staunend zu.


Bild 4: Rudi Maier, Werbeanzeige aus der Ausstellung „Narrenproduktion“, 1. Kapitel der thematischen Projektreihe „Spektakel, Lustprinzip oder das Karnevaleske?“, Shedhalle 2004.

Betrachtet man diese Beispiele oder auch aktuellere wie den „global carnival against capitalism“ (18. Juni 1999 parallel zu einem G8-Treffen), wird deutlich, wie in einem politischen Kontext lustvolle karnevaleske Momente eingesetzt werden, die einerseits gemeinschaftsstiftend sind, Lust produzieren sich mit einer politischen Haltung auseinanderzusetzen, öffentlichen und medialen Raum besetzen und andererseits Gefahr laufen in der Rezeption auf ein oberflächiges Spektakel reduziert zu werden. In einer Gesellschaft des Spektakels, vieler Events und Festivals, in welchen politische Themen und Botschaften behandelt werden, ist es teilweise schwierig zu unterscheiden, ob sich eine kommerzialisierte Erlebnisgesellschaft Strategien des Karnevalesken bedient oder ob das subversive Potential in der Lage ist, klare Anliegen zu artikulieren, die auch so rezipiert werden. Das Karnevaleske wird in diesem Spannungsfeld einerseits als Strategie einer widerständige Praxis genutzt – andererseits wird es auch von kapitalistischen Verwertungsinteressen durch die Ökonomisierung, Reglementierung und Institutionalisierung gesellschaftlicher Lustbegehren als Ventil instrumentalisiert. Die generelle Dichotomie des Selbstermächtigungspotentials popkultureller Phänomene und den profitorientierter Strategien der Kultur- und Lifestyle-Industrie wirft die Frage auf, inwiefern unsere Gesellschaft sowohl ein konsumierendes Prinzip als auch ein widerständiges Prinzip des Karnevalesken verfolgt. Wahrscheinlich kopieren und beeinflussen sich diese Konzepte gegenseitig und vermischen sich miteinander. Die zunehmende Spektakelisierung von Politischem fordert eine Positionierung. Interessant ist zu fragen, welche Rolle die Kunst oder die ästhetische Praxis hierbei spielt, da sie selbst von diesem Prinzip betroffen ist. Wichtig sind daher Überlegungen zur Ästhetisierung des Karnevalesken bzw. der Karnevalisierung des Ästhetischen: Inwiefern ist die künstlerische Praxis auch eine karnevaleske im Sinne einer widerständigen Praxis? Die künstlerische Praxis interessiert karnevaleske Strategien, wie sie etwa die Medien- und Kommunikationsguerilla verwenden: Einerseits untersucht und kommentiert sie diese, andererseits findet sie in ihnen häufig eine Sprache, um auf brisante gesellschaftliche Themen aufmerksam zu machen und sie zur Diskussion zu stellen.

Welches sind nun die Orte des Karnevalesken und was sind die Bühnen des Spektakels. Oder sind diese deckungsgleich? Gegenplatzierungen oder Wider-Orte [6], so schlagen es Matthias Rothe und Hartmut Schröder vor [7] , könnten mit Bachtin auch als karnevaleske Räume gelesen werden. Die Rote Fabrik wäre unter diesem Blickwinkel ein karnevalesker Ort. Karnevalesk in dem Sinn, dass sie einerseits einen Gegen-Ort darstellt, andererseits aber auch nicht Formen des Spektakels entbehren kann um öffentlich wahrgenommen zu werden. Die Platzierung zwischen diesen beiden Polen muss immer wieder neu verhandelt werden. Eine Innehalten birgt die Gefahr der institutialisierten Erstarrung und der Übernahme des eigenen Zeichenrépertoires in kommerzielle Verwertungsinteressen. [8]

Anmerkungen:

[1]

Die Rote Fabrik wurde 1892 nach den Plänen des Architekten Carl Arnold Séquin als mechanische Seidenweberei erbaut. Nach mehrmaligen Wechsel der BesitzerInnen und zeitweiligen Leerstand erwarb die Stadt Zürich 1972 die Rote Fabrik mit dem Plan, nach Abriss der Gebäude die angrenzende Seestrasse zu verbreitern. Doch der Heimatschutz, sowie die Sozialdemokratische Partei schalteten sich erfolgreich mit einer Volksinitiative gegen diese Planungen ein. Die Fabrik sollte als Kultur- und Freizeitzentrum erhalten bleiben. 1977 beauftragte das Stimmvolk den Stadtrat, eine Vorlage zur Nutzung der Roten Fabrik als Kultur- und Freizeitzentrum auszuarbeiten. Drei Jahre später beschleunigten die Jugendunruhen Anfang der80er Jahre die Entstehung des alternativen Kulturzentrums »Rote Fabrik«.

[3]

Die Shedhalle befindet sich auf dem Gelände der Roten Fabrik. Sie entstand auf Betreiben einer Interessengruppe von ortsansässigen KünstlerInnen, die im etablierten Kunstsystem untervertreten waren. Streitigkeiten zwischen den KünsterInnen und der Betriebsgruppe der Roten Fabrik führten später dazu, dass sich die Shedhalle 1986 von der Organisation der Roten Fabrik abspaltete und einen eigenen Verein gründete. Seit 1994 gab es einen sogenannten „kuratorischen Bruch“. Das übergeordnete Ziel dieser Neuerung war die Öffnung des Programms für unkonventionellere Formen der Kunstvermittlung und für interdisziplinäre Zusammenarbeit mit anderen gesellschaftlichen und wissenschaftlichen Organisationen. Um diesem Anspruch gerecht zu werden, sollte das Team aus MitarbeiterInnen zusammengesetzt werden, die bereits an der Schnittstelle von Kunst, diskursivem Vorgehen und politischem Engagement arbeiteten. KuratorInnen waren unter anderen Marion von Osten, Justin Hoffmann, Renate Lorenz und Frederikke Hansen. Eine feministische Ausrichtung und ein gesellschaftspolitisches Programm bestimmen die kuratorische Praxis.

[4] Vgl. Bachtin, Michail: Literatur und Karneval. Zur Romantheorie und Lachkultur, Frankfurt/Berlin/Wien 1985.

[5]

Die Unruhen begannen in Zürich mit dem so genannten „Opernhauskrawall“ am 30. Mai 1980. Mit großem persönlichem Einsatz und frei von jeglichen institutionellen Verpflichtungen filmten die AktivistInnen aus dem Videoladen Zürich die Bewegung sozusagen aus dem Inneren heraus. Aus dem vielfältigen Material entstand Ende 1980 Züri brännt. Die filmischen Dokumente dieser Zeit wurden vom Videoarchiv Stadt in Bewegung gesammelt. Insgesamt wurden 111 Videobänder zusammengetragen, die Bezug nehmen zur kulturellen Aufbruchstimmung der Jugendunruhen der 80er Jahre, sowie deren Auswirkungen bis in die frühen 90er Jahre sowie ihr künstlerisches Umfeld. Auszüge aus: Heinz Nigg, Express yourself - Sturm und Drang: Bewegungsvideo, erschienen in: Wir wollen alles, und zwar subito! Die Achtziger Jugendunruhen in der Schweiz und ihre Folgen (Zürich 2001).

[6] Die beiden Begriffe verweisen auf Michel Foucault, Andere Räume. In: derselbe, Aisthesis; Wahrnehmung heute oder Perspektiven einer anderen Ästhetik; Essais. Leipzig: Reclam-Verlag 1990. Der französische Originaltext ist online verfügbar unter <http://www.foucault.info/documents/heteroTopia/foucault.heteroTopia.fr.html>. [7. August 2005] – Anmerkung der Redaktion.

[7] Matthias Rothe/Hartmut Schröder: Thematische Einleitung: Vom Tabu zur Tabuverletzung, in: Matthias Rothe/Hartmut Schröder (Hrsg.): Ritualisierte Tabuverletzungen, Lachkultur und das Karnevaleske, Berlin-Frankfurt/Oder, pp. 11-15.

[8] Rudi Maier, Mediologische Vereinigung Ludwigsburg: Narrenproduktion – Zur Disziplinierung der Zeichen der Revolte.

„Get up, stand up“, „Fight for your right!“, „Radikalisiert das Leben!“ – Langjährige Parolen linker Bewegungen und gleichzeitig Headlines kommerzieller Werbeanzeigen aus den letzten Jahren. Hier zeigt sich ein umkämpftes Verhältnis, das seit 1967 zu beobachten ist und in welchem in Werbeanzeigen die Zeichen der Revolte diszipliniert und die Träger der Revolte als Narren und Andersartige gekennzeichnet werden sollen. Die oftmals spielerisch gestalteten Werbeanzeigen verraten dabei viel über die Ordnung der jeweiligen Gesellschaftsformation von 1967 bis heute – eine multimediale Einführung ins Feld „Werbung & Revolte“.